Mehr Disruption wagen!
Können wir in Deutschland noch Innovation? Professor Dr. Stefan Stoll setzt keine rosarote Brille auf, wenn man ihn um eine Lagebeschreibung der deutschen Wirtschaft bittet. Aber genau deshalb haben wir mit ihm gesprochen. Wir wollten wissen: Was läuft gut, was läuft nicht so gut, und was ist zu tun, damit auch das besser läuft?
Herr Professor Dr. Stoll, mal ganz frei heraus gefragt: Wie innovativ ist Deutschland?
Das hängt davon ab, was wir unter Innovation verstehen. Je nachdem ist Deutschland sehr innovativ oder aber ziemlich abgeschlagen. Ich verstehe unter Innovation: das kreative Ergebnis der geschickten Rekombination von bereits existierenden Ideen, Konzepten, Produkten, Services, Geschäftsmodellen. Es sind immer Neukombinationen – egal, ob Sie sich das iPhone anschauen oder E-Autos und vieles mehr. Solche Neukombinationen setzen offenes und kritisches Denken, Neugierde, Krea-
tivität, die Fähigkeit und Bereitschaft zu experimentieren und auch einen Wissensaustausch voraus.
Und damit komme ich jetzt auf Ihre Frage zurück: In Deutschland weisen die Anreize im Unternehmensalltag leider oft in die entgegengesetzte Richtung. Belohnt wird nicht Neugier. Stattdessen geht es darum, Unsicherheiten zu vermeiden, Budgets einzuhalten, Risiken zu minimieren. Man darf mal ein wenig spinnen – aber bitte nur nicht zu viel! Gesponnen wird in Meetings und Kongressen. Danach geht es zurück in den Alltag und die Ernüchterung ist groß. Weil du genau für die dort erträumten Innovationen keine Budgets kriegst. Dazu kann ich nur sagen: „You always get what you pay for.“ Unternehmen bezahlen ihre Mitarbeiter eben dafür, dass sie Regeln einhalten, in vorgegebenen Kategorien denken und um Gottes Willen kein Geld verbrennen.
Prof. Dr. Stefan Stoll ist Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Villingen-Schwenningen. Er ist Leiter des Studiengangs Wirtschaftsinformatik, Business Engineering, Digital Management, Technologie & Innovationsmanagement. Prof. Dr. Stoll forscht und referiert zu den Auswirkungen der neuesten Entwicklungen in der Informationstechnologie auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie auf Geschäftsmodelle und Geschäftsprozesse. Außerdem setzt sich ein für eine Annäherung von Wissenschaft und Praxis.
Wo aber sind wir dann sehr innovativ? Denn davon sprachen Sie ja auch ...
Wir machen nicht Silicon Valley, aber wir sind Meister der Effizienzinnovationen. Wir versuchen, Bestehendes mit weniger Input und weniger Kapitaleinsatz hinzubekommen – und das ist zweifellos klasse! Aber eben auch klassisches deutsches Ingenieursdenken. Der Diesel verbrennt heute 5,6 Liter, während es vor 30 Jahren 25 Liter waren. Wir schaffen Effizienz – das sind unsere Innovationen, und das ist super! Ich nenne das evolutionäre Innovationen. Wir machen ein bestehendes Produkt für einen bestehenden Markt und eine bestehende Kundengruppe immer besser. Im Silicon Valley ist das nicht so. Hier betrachtet man digitale Technologien als das neue Betriebssystem für alle Transaktionen und die gesamte Kommunikation. Das explizite Ziel der Akteure: Man will mithilfe digitaler Technologien grundlegend Neues schaffen. Man will näher an den Kunden, ihn und seine Bedürfnisse besser verstehen. Als Konsequenz muss das Analoge verschwinden! Rigoros stellt man bisherige Überzeugungen infrage und bricht mit bekannten Regeln. Netflix hat doch zu keinem Zeitpunkt gefragt: „Wie funktioniert das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland?“ Die machen Software, Streaming, du brauchst WLAN und schon funktioniert’s. Das sind disruptive Innovationen. Und die machen wir in Deutschland nicht. Wir bezahlen die Leute eben dafür, dass sie vorsichtig innovativ sind.
Wo besteht konkret Nachholbedarf?
Nicht zwingend bei den Technologien. Die sind in weiten Teilen auch für uns zugänglich. Es geht um die Nutzung dieser Technologien. Wir erleben immer noch viel zu häufig die Dominanz des Analogen, die Dominanz von Datensilos und nicht digitalisierten Geschäftsprozessen. Der eigentliche Nachholbedarf besteht in unseren Köpfen, in unseren Denkkonzepten. Ich darf das kurz mit einem Bild verdeutlichen: Die digitale Transformation, an der gerade alle arbeiten, spielt sich auf drei Ebenen ab. Auf der untersten Ebene stehen die technologischen Verbesserungen und digitalen Innovationen. Die folgen aufeinander wie die Stufen einer Treppe, es kommen immer wieder neue dazu und führen eine Stufe höher. Das ist die Technologienkurve. Eins drüber kommt die soziale Adaptionskurve. Sie bildet ab, wie die Gesellschaft die Technologien aufnimmt. Ich male dafür eine leichte Wellenlinie, die längst nie so hoch steigt wie die Technologiekurve. Die soziale Adaptionskurve verläuft immer zeitversetzt, gerade bei uns. Und das ist für mich die Frage der Transformation: Wie kann ich diese Technologien in den Unternehmen in die Wahrnehmung und Umsetzung bringen? Ganz oben, als Drittes, verläuft die Kapitalmarktkurve. Sie ist völlig unabhängig davon; hier sind Emotionen und der Herdentrieb entscheidend.
Welche Kurve ist die wichtigste?
Die mittlere, die Adaptionskurve. Technologien sind da – aber wie bekommen wir sie in die Unternehmen? Das ist für
mich eine Frage der Akzeptanz, des Verständnisses der Technologien und des Mindsets in der Kultur. Und das ist die
Hausaufgabe für uns: wirklich verstehen, wie das Silicon Valley tickt. Dort herrscht nämlich die Logik von Softwareent-
wicklern. Die dürfen experimentieren. Start-ups – das sind vom Wort her reine Experimente. Junge Burschen und Mädels experimentieren und schauen, welches Produkt und welcher Code welchen Service leistet oder Nutzen bringt. Und das testet man direkt beim Kunden und nicht ingenieursmäßig mit zwei, drei Jahren Forschung und Entwicklung sowie einem tollen Produkt irgendwo am Ende. Denn am Ende ist der Markt längst ganz woanders. Das Silicon Valley denkt in Experimenten, Ausprobieren, in Neukombinationen. Neugier wird belohnt!
Und das ist bei uns nicht so?
Wenn ich in Unternehmen frage: „Wenn man in eurem Laden eine geile Idee hat – wo kann man sie testen?“ und ich höre: „Ja, es gibt da ein betriebliches Vorschlagswesen“, dann ist das für mich schon gegessen. Die Frage ist doch die: Gibt jemand dieser Frau oder diesem Mann etwas an die Hand, wie sie/er das ausprobieren kann? Gibt es ein Budget und einen zeitlichen Rahmen, um es auszuprobieren? Ohne dass man sagt: „Du bist auf dieser und jener Ebene und hast da nichts zu sagen.“? Oder herrscht die alte Denke: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“? Silicon Valley läuft genau umgekehrt zu dem, was wir in Deutschland machen. Effizienz steht nicht am Anfang. Das iPhone war am Anfang Schrott. Genauso SpaceX und Tesla. Kreativität vor Prozesseinhaltung! Wenn wir vorne mitspielen wollen, müssen wir auch den Weg lernen und am Ende beides können.
Und wie lernen wir das?
Wir müssen schon in der Schule anfangen. Etwa damit, programmieren zu lernen oder es zumindest zu verstehen. Ein deutscher Ingenieur heute kann Maschinen bauen, aber Daten analysieren kann er nicht. Das sind immer noch zwei Welten. Unsere Ingenieure sprechen von Sensorik, aber wenn in der Firma eine Maschine zusammenbricht, dann geht irgendwo ein rotes Lämpchen an und das war’s. Dabei müssten diese Maschinen untereinander vernetzt sein und die Sensorik müsste diese Daten bereits generiert und verfügbar gemacht haben. Wir müssen uns dafür entscheiden, nicht nur Hardware zu produzieren, sondern auch bei den Datenservices größer zu werden. Unser großer Vorteil dabei ist: Die Hardware haben wir bereits.
Welche Rolle spielen dabei regionale Netzwerke, wie es sie im Silicon Valley seit Tag 1 gibt?
Zum einen gibt es die Verzahnung von Stanford University und Wirtschaft – keine Berührungsängste, sondern Spin-offs. Studierende dürfen mit ihrer Forschung Unternehmen gründen. In München versucht man das gerade nachzubauen. 20 Jahre zu spät – aber immerhin. Was das Silicon Valley so erfolgreich macht, sind aber auch die unglaublichen Mengen an Wagniskapital. Das aktuelle Start-up-Barometer von Ernst & Young zählt, wie viele Start-ups in den einzelnen Bundesländern mit Venture Capital unterstützt werden. Auf dem ersten Platz ist Berlin mit 431 Start-ups, auf dem zweiten Platz war Bayern mit 205 Start-ups. Dann Nordrhein-Westfalen mit 92, Hamburg mit 75 und erst auf Platz vier Baden-Württemberg mit 69. Puuh ...
Was sind die nächsten Treiber der digitalen Revolution?
Da könnte ich vieles aufzählen, aber ich will eine Sache herausgreifen: Automatisierung. Was aktuell in Medien und Politik als Fachkräftemangel beklagt wird, ist oftmals ein Mangel an Automatisierung. Was ich meine, hat nichts mit kaltem Jobabbau zu tun. Vielmehr haben wir in Deutschland viel zu viele „Bullshit-Jobs“. Monotone, geisttötende und langweilige Jobs, die wir an Algorithmen abgeben sollten. Ich diskutiere diese Fragen aktuell mit unterschiedlichsten Gruppen. Die Reaktionen sind überall gleich: Nach anfänglicher Ablehnung erkennt man an konkreten Beispielen schnell die Vorteile. Mein Fazit: Wir müssen unser Denken ändern. Neben die Frage „Was macht unser Produkt besser?“ muss die Frage treten: „Was müssen wir grundlegend anders machen?“
Interview: Thomas Glanzmann
Fotos: Privat